Das Beste kommt zum Schluss. Oder? – Wie mich 2 Schälchen Erdbeeren in Corona-Zeiten wieder in die Spur gebracht haben.
Dies ist eine sehr persönliche Geschichte aus meinem Corona-Sommer.
Immerhin gab es auch in diesem verrückten Jahr etwas, was ich über alles liebe: Erdbeeren. Anfang August geht bei uns im Rheinland die Erdbeersaison langsam zu Ende. Trotzdem haben wir es vergangenes Wochenende noch geschafft, in einem der zahlreichen idyllischen Hofläden rund um Hürth noch ein Schälchen regionaler, bumsteurer und äußerst lecker aussehender Erdbeeren zu ergattern. Wir fuhren sie voller Vorfreude mit dem Roller heim. Nur ein paar Augenblicke später saßen wir in unserem Garten in der Sonne und machten uns dran, die knallroten, duftenden und saftigen Erdbeeren zu verspeisen.
Wir aßen langsam Erdbeere für Erdbeere und ließen den Tag Revue passieren. Auf einmal meinte Andrea zu mir: Wie isst du denn deine Erdbeeren? Du hebst dir die schönsten und saftigsten bis zum Schluss auf, oder? “Ich schaute sie ein bisschen kariert an und überlegte kurz. Sie hatte Recht.
Ich überlegte weiter. Stimmt, das mache ich immer so. „Das Beste kommt zum Schluss. Dann hat man etwas, auf das man sich freuen kann.“, sagte ich. – „Das ist ja interessant. Von wem hast du das denn?“, meinte Andrea. „Ich glaube, das habe ich in meiner Kindheit öfter gehört. Von meinen Verwandten, Lehrern oder so.“, entgegnete ich. – „Das ist ja spannend. Da liegt irgendwie ein großer Unterschied zwischen Deiner und meiner Lebensphilosophie: Du hebst Dir die besten Erdbeeren bis zum Schluss auf.
Das bedeutet: Du isst immer die schlechteste Erdbeere als nächstes. So lange, bis Du nur noch eine auf dem Teller hast. Du isst also jedes Mal die schlechteste Erdbeere, um Dich am Ende einmal über die Beste zu freuen, stimmt‘s? Ich mache es anders. Ich esse immer die beste Erdbeere zuerst. Und wenn ich sie gegessen habe, dann esse ich als nächstes wieder die beste Erdbeere aus dem Schälchen. Ich esse immer die beste Erdbeere. Bis das Schüsselchen leer ist. Und darüber freue ich mich bei jedem Bissen.“
Ich war baff. So deutlich meine momentane Situation vor Augen geführt zu bekommen anhand der Essweise meiner Erdbeeren schockierte mich. Sprich: Diese Verhaltensweise spiegelte mein momentanes Leben wider. Das war gerade geprägt von Arbeit, Arbeit, Arbeit. Trotz Corona-Lockdown. Ich ging früh morgens ins Homeoffice und am frühen Abend wieder mit viereckigen Augen heraus. Und dachte: Jetzt erstmal Gas geben, danach kann ich mich irgendwann wieder ausruhen und das Leben, die Sonne und den Garten genießen.
Seit Mitte April strukturierte sich meine Firma um. Meine gesamte Business Unit mit knapp 30 internationalen Standorten. Der ganze Vertrieb wurde umgekrempelt. Und ich als Schulungsverantwortliche war mittendrin. Und funktionierte gerade nur noch. Trieb Projekte voran, transportierte Wissen in Online-Trainings den ganzen Tag von links nach rechts, von Kontinent zu Kontinent. Morgens Asien, mittags die europäischen Kollegen und abends noch Amerika. Ich holte Kollegen ins Boot, gleiste auf und ab (O-Ton Unternehmensberatung) konzipierte, konsolidierte und plante wild vor mich hin.
Corona tat ein Übriges. Alle um mich herum waren im Homeoffice und versuchten es mit Downsizen. Manche hatten sogar Zukunftsängste und machten sich Sorgen um ihren Job und ihr Auskommen. Ich gehörte zu den wichtigen! Leuten im Unternehmen, die gerade gefragt waren. Und drehte richtig auf. Und das in eine Richtung, die mir überhaupt nicht gefiel. Administrativ, ein Meeting nach dem anderen, Trainings mit reinen Business-Inhalten und viel Politik. Genau das, was ich nie wollte. Weshalb ich schon Unternehmen verlassen hatte. Ich hatte gerade wirklich vergessen, das Leben zu genießen und alle schönen, roten Erdbeeren beiseitegelegt.
Ich tat das, was man mich von klein auf gelehrt hatte: Ich funktionierte und wartete auf das Beste, das irgendwann am Ende kommen sollte. Entspannen, Urlaub, Reisen, sich in die Sonne legen und ein gutes Buch lesen. Oder einfach nur eine Zeitung. Gerade war alles auf später ausgerichtet. Denn mein Glaubenssatz hatte wieder übernommen: „Das Beste kommt zum Schluss“. Und mit der Corona-Situation hatte ich auch für mich eine gute Ausrede. Immerhin hatte ich einen sicheren und vor allem äußerst wichtigen Job. Alle anderen waren in Kurzarbeit. Nur ich (und die anderen wichtigen Manager) wurden gebraucht. Von wegen.
Die Philosophie von Andrea war komplett anders. Sie hat zwar prinzipiell das gleiche Schälchen Erdbeeren wie ich gegessen, hatte aber einen komplett anderen Ansatz – der irgendwie auch typisch war für sie
Sie nahm sich immer die beste Erdbeere und ich mir immer die nächst-schlechteste. Im übertragenen Sinn: Sie holte sich JETZT das Beste vom Leben – ich wartete auf das Beste. Mir fiel ein Spruch aus einem meiner Lieblingsfilme Kung Fu Panda ein: Yesterday is History, tomorrow is a mystery, today is a gift. That’s why it’s called PRESENT.
Zwei Schälchen Erdbeeren haben mir dabei geholfen, meinen Kompass wieder neu auszurichten. Auf das, was ich wirklich will. Auf das, was mir wichtig ist. Und auf das, was mir Spaß und Freude macht. Ich habe mir selbst wieder das Versprechen gegeben, mir immer das Beste vom Leben zu holen, was gerade möglich ist. Und es jetzt zu genießen. In diesem Augenblick. Das einzige, was mir, dir, jedem und jeder wirklich gehört.
Dieses Umdenken ist manchmal gar nicht so einfach. Denn alte, eingebrannte Denk- und Verhaltensweisen, die man Jahre- und Jahrzehnte lang gelebt und vorgelebt bekommen hat, verschwinden nicht von heute auf morgen. Und manchmal vergessen wir unseren guten Approach auch, weil wir uns von vermeintlichen Wichtigkeiten, Titeln, Geld oder was auch immer von außen blenden lassen. Und schieben die saftigsten, roten Erdbeeren beiseite: Vertrösten die liebsten Menschen auf später, machen nicht das, was uns am Herzen liegt. Weil wir denken, erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Die Erdbeeren haben mich daran erinnert, das Beste sofort zu essen und es nicht auf später aufzuschieben. Und auch im Leben, warte ich nicht auf den Tag X in der Zukunft, sondern werde sofort aktiv. Lasse wieder Fünfe gerade sein und kümmere mich wieder mehr um das, was MIR wichtig ist. Und gut tut. Und wenn es heute nicht geht, dann tue ich seit dem Erdbeerabend wieder sofort alles, was in meiner Macht steht dafür, um es mir so schnell wie möglich zu holen.
Eine wichtige Sache habe ich von den Erdbeeren noch gelernt: Die beste Erdbeere im Leben springt nicht von selbst in Deinen Mund. Die liegt auch nicht immer obendrauf. Manchmal musst Du sie suchen. Und vor allem: Du musst Sie Dir selbst holen!
Auch oder gerade in Zeiten von Corona.